Ganze Kniebeuge oder halbe Kniebeuge?
Immer wieder taucht die Diskussion darüber auf, ob vollständige Kniebeugen tatsächlichen einen Vorteil gegenüber Teilwiederholungen haben. Befürworter der Teilwiederholung gibt es tendenziell weniger als Befürworter der Tiefkniebeuge. Einer der populärsten Fürsprecher der „halben Kniebeuge“ ist Joel Seedman, der seine Athleten beinahe nur „Partial Squats“ trainieren lässt. Daher scheint es legitim zu sein zu prüfen, in wie weit Teilwiederholungen tatsächlich gegenüber einer vollständigen Kniebeuge sinnvoll sein können und ob es überhaupt notwendig ist Tiefkniebeugen auszuführen.
Grundsätzlich sollten drei verschiedene Formen der Kniebeuge in Bezug auf ihre Bewegungsamplitude unterschieden werden: die Teilwiederholung (Partial Squat mit 30-90° Knieflexion), die Parallel-Kniebeuge (etwa 120° Knieflexion) und die Tiefkniebeuge (etwa 140° Knieflexion). Parallel-Kniebeugen werden im Kraftdreikampf ausgeführt, während die Tiefkniebeuge mit maximaler Knieflexion im Olympischen Gewichtheben zu finden ist. Die Teilwiederholung ist häufig in Fitnessklassen in Fitnessstudios zu finden und wird daher häufig auch als „Fitness-Kniebeuge“ bezeichnet. Im Folgenden nehme ich prinzipiell Bezug auf die Unterscheidung zwischen der Teilwiederholung und der Tiefkniebeuge.
Wenn man sich die Studienlage anschaut, scheint bei einer genauen Betrachtung die Sachlage klar. Wenn es um Muskelaufbau geht, ist die Tiefkniebeugen in Bezug auf alle an der Kniebeuge beteiligten Muskeln überlegen. Volle Kniebeugen führen zu mehr Muskelwachstum im Quadrizeps als Teilwiederholungen in einem 10-Wochen-Zyklus (4.9% zu 4.6%). Die volle Kniebeuge ist ebenfalls besser für die Adduktoren und den Gluteus (6.2% und 6.7% zu 2.7% und 2.2%) (1). Der Beinbeuger wird in beiden Tiefen im Vergleich zu den anderen Muskelgruppen nur gering trainiert. Ein Punkt für die Tiefkniebeuge.
Halbe Kniebeugen führen zu mehr Kraft bis 90 Grad und tiefe Kniebeugen führen zu mehr Kraft in der tiefen Kniebeuge. Obwohl Athleten, die die halbe Kniebeuge machen stärker in der halben Kniebeuge werden als die Gruppe, die die tiefe Variante ausführte, so werden die „Halben“ nicht besser in der vollen Kniebeuge. In einer Studie von Bloomquist konnte gezeigt werden, dass Athleten, die eine Tiefkniebeuge ausführten ihre Kraftwerte in der Tiefkniebeuge und in der Teilwiederholung um durchschnittlich 20% verbessern konnten. Die Gruppe, die ausschließlich Teilwiederholungen ausführte, verbesserte sich in der Teilwiederholung zwar um durchschnittlich 38%, jedoch in der Tiefkniebeuge nur um 9%. Die Tiefkniebeuge hat daher einen stärkeren Nutzen in Bezug auf die gesamte Bewegungsamplitude als die Teilwiederholung. Die Teilwiederholung ermöglicht nur eine winkelspezifische Kraftsteigerung mit einem geringen Transfer zum nicht-trainierten Kniewinkel. Dieser Punkt geht an beide Varianten, obwohl auch hier die Tiefkniebeuge nur einen sehr spezifischen Effekt mit sich bringt.
Quarter Squats und Half Squats schneiden in manchen Studien besser in Bezug auf die vertikale Sprunghöhe und 40 Yard-Sprints besser ab als tiefe Kniebeugen (2). In Bezug auf den Sprint konnte dies jedoch nur bei dem 40-Yard-Dash festgestellt werden, wahrscheinlich weil dieser aus dem Stand heraus ausgeführt wird. Daher ist nicht anzunehmen, dass eine Teilwiederholung auch den selben Transfer zu einem 100m-Sprint vom Startblock ermöglicht. Betrachtet man jedoch die Sprintleistung in den meisten athletischen Sportarten ist der Start vom Startblock nur wenig relevant. Andere Studien weisen jedoch darauf hin, dass die verbesserte Sprunghöhe und Sprintleistung nur bei Athleten sinnvoll ist, die bereits eine gute Trainingsgrundlage aufweisen. Ein spezifisches Winkeltraining zur Verbesserung der vertikalen Sprunghöhe scheint nur bei erfahrenen Athleten sinnvoll (3). Auch eine Untersuchung von Schmidtbleicher et al. konnte aufzeigen, dass tiefe Kniebeugen einen besseren Übertrag auf die Sprungleistung haben als Quarter Squats (4). Beide Kniebeugenvariationen erhalten einen Punkt, obwohl klar zwischen Anfängern und fortgeschritteneren Athleten differenziert werden muss. Anfänger sollten als Grundlage die volle Kniebeuge trainieren bevor sie mit einem winkelspezifischen Training anfangen.
Ein dauerhaftes Training von Teilwiederholungen kann zu einer lokalen Überlastung der Knie führen. Obwohl es dafür keine aussagekräftigen Studien gibt ist dies dennoch denkbar. Durch das Training der Teilwiederholung wird die vordere Kette zwar stark aktiviert, der gluteale Bereich wird jedoch kaum beansprucht. Langfristig kann dies zu muskulären Dysbalancen und einer reduzierten strukturellen Balance zwischen der vorderen und der hinteren Kette führen. Gleichzeitig wird die Nährstoffversorgung der Gelenke reduziert, da diese die beste Versorgung über die komplette Bewegungsamplitude erreichen. Sehnen und Bäder werden optimal am Ende der Bewegungsamplitude belastet und gestärkt. Daher scheint es in Bezug auf den passiven Bewegungsapparat nur wenig sinnvoll Teilwiederholungen auszuführen. Partial Squats können darüber hinaus langfristig zu einer reduzierten koordinativen Fähigkeit und Verlust an Kontrolle in großen Kniewinkeln führen. Was wir nicht trainieren, verlieren wir. Daher sollte man sich die Frage stellen welchen Platz die „Partial Squats“ im Training haben sollten. Die Antwort ist: für fortgeschrittene Athleten in Bezug auf eine winkelspezifische Kraftleistung kann die Teilwiederholung sinnvoll sein. Dies jedoch aber auch nur nach einem ausreichenden Grundlagentraining. Für alle anderen Zielsetzungen ist die Ausführung der „Partial Squats“ sinnlos und kann langfristig sogar kontraproduktiv sein.
Quellen:
(1)
Kubo, K., Ikebukuro, T., & Yata, H. (2019). Effects of squat training with different depths on lower limb muscle volumes. European journal of applied physiology, 119(9), 1933–1942.
(2)
Rhea, M. R., Kenn, J. G., Peterson, M. D., Massey, D., Simão, R., Marín, P. J., Favero, M., Cardozo, D., & Krein, D. (2016). "Joint-angle specific strength adaptations influence improvements in power in highly trained athletes," Human Movement, 17(1)
(3)
Bloomquist K, Langberg H, Karlsen S, Madsgaard S, Boesen M, Raastad T. Effect of range of motion in heavy load squatting on muscle and tendon adaptations. Eur J Appl Physiol. 2013 Aug;113(8):2133-42.
(4)
Hartmann H, Wirth K, Klusemann M, Dalic J, Matuschek C, Schmidtbleicher D. Influence of squatting depth on jumping performance. J Strength Cond Res. 2012 Dec;26(12):3243-61.
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